Objekt des MonatsPublikationsdatum 17.03.2022

Das Füllhorn und Jesus als Fülle


In Joh 1,16 stellen Christen jubelnd fest: «Aus seiner Fülle (plerôma) haben wir alle empfangen». Der Spender dieser Fülle ist im voraus gehenden Vers 15 derjenige, welcher nach Johannes dem Täufer kommt, also Jesus von Nazaret, in dem aber – dem Gedanken des Johannes-Prologs gemäss – die vor- oder überzeitlichen Tiefendimension Jesus als des fleischgewordenen Logos sichtbar wird (1,14). Dessen Herrlichkeit haben die gleichen Christen auch schon «gesehen» und zwar als von einem, der «voll (plêrês) Gnade und Wahrheit» ist.

Die «Fülle» von Joh 1,16 wurde öfters mit dem schwierigen Begriff des plerôma in der gnostischen, kosmologischen und hermetischen Literatur der Antike zu erklären versucht oder man hat Aussagen von Fülle in der Weisheitsund Gebetsliteratur des Alten Testaments zur Deutung beigezogen. Es gibt aber neben dieser Welt der Worte, die nur den wenigen damals Lesekundigen zugänglich war, auch die Welt der Bilder, die allen antiken Menschen vor Augen standen und sie stärker beeindrucken und belehren konnten als Texte. Und in dieser Welt der bildlichen Darstellungen kommen zahlreiche Bilder von Fülle vor, die – vor allem durch Münzen – bis in die fernsten Winkel der jeweiligen Herrschaftsgebiete verbreitet wurden.

Wenn man sich in der antiken Ikonographie nach Darstellungen von Fülle umschaut, stösst man auf Schritt und Tritt auf das Bildmotiv des Füllhornes, das seit seinen ersten Darstellungen im 5. Jh. v. Chr. ein Symbol der Fruchtbarkeit, des Überflusses von Segen und Wohlstand ist. Die antiken Herrscher hellenistisch-römischer und auch jüdischer Prägung haben sich selbst mit dem Bildmotiv des Füllhorns als Garanten der Prosperität und des Reichtums, also eines Lebens in Fülle für ihre Untertanen verstanden. Dabei fand stets eine Annäherung, ja Identifikation des Herrschers mit jener Gottheit statt, die dem Herrscher seine überfliessende Fülle gab und dadurch dem von ihnen beherrschten Volk Wohlstand ermöglichte.

Abb. 1 Rückseite einer Silbermünze (um 250 v. Chr.) des ägyptischen Herrscherpaares Pto-lemaios II. und seiner Schwester und Gemahlin Arsionë II. mit einer Selbstdarstellung durch ein überfliessendes Doppelfüllhorn. (BOM, N 1966.208)

Dieses starke Symbol wurde erstmals von den Ptolemäern (im 3. Jh. v. Chr.) in Ägypten zur Darstellung ihrer dynastischen Wichtigkeit und gottgegebenen Segenskraft eingesetzt. Die Abb. 1 zeigt eine prächtige Silbermünze (um 250 v. Chr.) des ägyptischen Herrscherpaars Ptolemaios II. und seiner Schwester und Gemahlin Arsionë II., das sich mit einem Doppelfüllhorn darstellt, das mit Früchten, Kuchen und Trauben überfliessend gefüllt ist. Diese Selbstdarstellung als Repräsentanten der Prosperität für ganz Ägypten zeigt sich noch deutlicher an einem steinernen Thron in Rhodos (um 250 v. Chr.), auf dem das gleiche Herrscherpaar als Doppelfüllhorn sitzt (Abb. 2). Die syrischen Nachfolger Alexander des Grossen, die Seleukiden, haben ab dem 2. Jh. v. Chr.) dieses Symbol ihrer göttlichen Herkunft und Prosperitätsverheissung auf zahlreichen eigenen Münzprägungen abgebildet.

Abb. 2 Ein steinerner Thron in Rhodos des gleichen ägyptischen Herrscherpaares (wie Abb. 1), das als überfliessendes Doppelfüllhorn auf dem Thron sitzt. (Zeichnung von Ulrike Zurkinden)

Die jüdischen Herrscher, die Hasmonäer, die sich um die Mitte des 2. Jh. v. Chr. von ihren syrischen Oberherren lossagten, bezogen das gleiche Symbol – und damit auch dessen Grundbedeutung – auf ihre eigene Herrschaft. Die Abb. 3 zeigt eine sehr hübsche Bronzemünze des hasmonäischen Herrschers Jehochanan/Hyrkanos I. (reg. 135-104) mit einem Doppelfüllhorn voller Früchte, Kuchen und Ähren, zwischen dem ein Granatapfel eingezeichnet ist. Auch die herodische Dynastie setzte dieses weitverbreitete Bildmotiv ein, wie eine Bronzemünze Herodes des Grossen (reg. 40-4 v. Chr.) zeigt (Abb. 4), der jedoch, schlau wie er war, zwischen dem überfliessenden Doppelfüllhorn ein Objekt abbilden liess, das von den Juden als Granatapfel (vgl. Abbildung 3) und von den paganen Menschen als Stab des Merkur (caduceus) verstanden werden konnte. Die römische Bildwelt übernimmt in der Folge alle Möglichkeiten und Sinngehalte und macht einen exorbitanten Gebrauch des Füllhorns auf allen möglichen Bildträgern. Dass die Römer ihre göttliche Sendung und wohltuende Herrschaft bis in die rebellische Provinz Judäa propagierten, zeigt eine Bronzemünze des römischen Prokurators Valerius Gratus (reg. 15-26 n. Chr.), auf welcher zwei gekreuzte Füllhörner das Motiv des Merkurstabes (caduceus) umschliessen (Abb. 5).

Damit ist das Jahrhundert erreicht, das den aktuellen Bildkontext darstellt, in welchem Joh 1,16 damals verstanden wurde. Es liegt deshalb nahe, in der jubelnden Aussage von Joh 1,16 über Jesus von Nazaret, der aus seiner Fülle all den Seinigen im Übermass austeile, eine literarische Version des ikonographisch so präsenten Füllhorns zu sehen. Dass im Johannes-Prolog auch der transzendente Hintergrund Jesu als Logos und Gott angesprochen ist, entspricht durchaus der Vorstellung der antiken Herrscher, dass in ihnen jene göttliche Kraft präsent ist, die für ihre Völker eine gute und gelungene Existenz garantiert.

Es ist zudem zu beobachten, dass das Füllhorn in einigen Dokumenten der Antike personalisiert wird. Nicht nur haben die ptolemäischen Herrscher sich selbst als Füllhörner auf den Thron gesetzt (s. Abb. 2), auch auf Münzen der spätrömischen Zeit entwachsen den beiden Füllhörnern die Köpfe aktueller oder kommender Kaiser. Damit ist die Identität der Person und des Füllhorns deutlich zum Ausdruck gebracht. Auch in der Bibel gibt es eine Stelle mit einer solchen Personalisierung: In der griechischen Version von Ijob 42,14 gibt der leidgeprüfte und schliesslich rehabilitierte Ijob einer seiner Töchter den Namen «Horn der Amaltheia», was der ursprüngliche Ausdruck für «Füllhorn» ist. Damit bezeichnete Ijob seine hübsche Tochter als eine Person, in welcher seine neu erworbene Lebensfülle lebendig präsent ist.

Es war dem hohen Theologen Johannes wohl unmöglich, Jesus nicht nur «Ich bin das Brot des Lebens» (Joh 6,48. 51) oder «Ich bin das Licht der Welt» (8,12) oder «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» (14,6) oder «Ich bin die Auferstehung und das Leben» (11,25), sondern auch «Ich bin das Füllhorn Gottes» sagen zu lassen. Vielleicht wäre die politische Kritik an all den andern, die sich zu Garanten der Fülle machten, zu deutlich gewesen. In der Antike wäre jedoch eine Identifikation Jesu mit einem solch konkreten Bild durchaus möglich gewesen, wie etwa die Worte «Ich bin die Türe zu den Schafen» (10,7) oder «Ich bin der wahre Weinstock» (15,1) zeigen. «Füllhorn» konnte ja, wie bei Ijob 42,14, durchaus ein liebevoller Eigenname sein. Johannes zieht aber hier, im Hymnus vom Wort, vom Leben, vom Licht, von der Herrlichkeit, Gnade und Wahrheit, dem allzu konkreten Namen «Füllhorn» den offeneren Ausdruck «Fülle, aus der wir alle empfangen habe» vor. Die Aussage ist aber dieselbe.

Abb. 3 Rückseite einer Bronzemünze des jüdischen Herrschers Jehochanan/Hyrkanos I. (reg. 134-104 v. Chr.) mit einem Doppelfüllhorn voller Früchte, Kuchen und Ähren, das einen Granatapfel um-schliesst. (BOM, N 1995.20)

Abb. 4 Rückseite einer Bronzemünze Herodes des Grossen, der von 40-4 v. Chr. das jüdische Volk beherrschte. Das überfliessende Doppelfüllhorn umschliesst ein Objekt, das von den Juden als Granatapfel (vgl. Abb. 3), von den Paganen jedoch als Merkurstab (caduceus) verstanden werden konnte. (BOM, N 1995.66)

Abb. 5 Rückseite einer Bronzemünze des römischen Pro-kurators Valerius Gratus (reg. 15-26 n. Chr.) mit zwei grossen gekreuzten Füllhörnern, zwischen denen ein Merkurstab (caduceus) abgebildet ist und worauf rechts und links das Datum «Jahr 3» (= 16/17 n. Chr.) steht. (BOM, N 1999.5)

Max Küchler